Corona und seine Wirklichkeiten in Ungarn – Tag 23 der Corona Krise

Seit vielen Jahren habe ich eine wunderbare Freundin in Ungarn. Gisela wuchs in der DDR auf und erfuhr schon mit jungen Jahren, was es bedeutet in einem Land groß zu werden, wo die Wirtschaft darnieder lag, die meisten Industrieanlagen zerstört waren oder vom großen Bruder in Moskau abgebaut und wegtransportiert wurden. Viele der Männer waren im Krieg geblieben und fehlten für den Wiederaufbau.

Vieles, das sie heute in Ungarn sieht und erlebt, erinnert sie an damals, an ihre Jugend in der DDR. Sie findet klare Worte, als ich mit ihr telefoniere und ich überlege mir lange, ob ich sie so niederschreiben soll oder kann? Nach einigem Hin und Her und nachdem sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen, entschließe ich mich, unser Telefonat niederzuschreiben, das nach ein paar freundschaftlichen Worten mit einem kurzen Satz: „Er ist wie Hitler“, fortgeführt wird. „Er versucht seit Jahren mit „demokratischen“ Regeln die Demokratie in Ungarn außer Kraft zu setzen und es gelingt ihm von Tag zu Tag besser. Weißt du, ich glaube mittlerweile, dass dieser Hass und dieser Rassismus, die Arbeitslosigkeit und die mafiaartigen Zustände in Ungarn, das Land meiner Söhne, zerstören werden.“

Sie versteht nicht, dass die EU zusieht, sie versteht nicht, dass es keine Konsequenzen für Viktor gibt, obwohl er seit 2010 der EU auf der Nase herumtanzt, die EU-Regeln missachtet und heute wahrscheinlich nicht einmal mehr die Minimalanforderungen für einen EU-Beitritt mitbringen würde.

„Er hat jeden Kontext zur Realität verloren. Meine Söhne leben seit Jahren im Ausland, der eine ist mittlerweile über 10 Jahre weg, der andere seit 5 Jahren. Es gibt kein Leben für meine Söhne, für meine Familie in Ungarn. Der Zustand der Wirtschaft ist erbärmlich. Wenn die EU uns keine Gelder mehr schickt, ist die Wirtschaft am Boden. Ich muss für das lebensnotwendige Medikament meines Mannes ans andere Ende der Stadt fahren. Warum? Weil es dieses spezielle Medikament nur mehr dort in einer hochspezialisierten Klinik gibt und nur Gott weiß, wie lange noch? Selbst Ärzte verlassen uns in Scharen. Und was macht er? Was macht Viktor? Er lebt mit seinen getreuen Parteikollegen auf „großem Fuß“, die Bevölkerung hingegen muss darben, wird kurz gehalten, mit Propagandaschwüren zum Durchhalten – wofür eigentlich? – aufgerufen und mit verfassungsrechtlichen Reformen zum Nichtstun durch Furcht getrieben. Viele Menschen leben heute in Armut und die Jungen, so wie meine Jungs, haben bereits vor Jahren das Land verlassen. Wer soll unser Land in Zukunft also aufbauen? Wir Alten? Wir können nicht mehr, wir sind einfach zu alt und zu müde.

Zurzeit versuchen wir Corona zu überleben und einen Krankenhausaufenthalt zu vermeiden, den würden mein Mann und ich wahrscheinlich gar nicht überleben. Ich habe bei uns im Keller eine „intelligente“ Schleuse eingerichtet, eine sogenannte „Pandemieschleuse“. Tibor ist begeistert und stolz auf mich. Meine Arbeitsjahre in der Medizinbranche waren also nicht ganz umsonst. Soll ich sie dir kurz beschreiben? Also dort im Keller sind meine Hose, mein Pullover, meine Jacke, meine Mütze oder mein Tuch, eine Brille und Einmalhandschuhe, dazu meine festen Schuhe, ein Schal und ein kleines Fläschchen Desinfektionsmittel. Da mich die Menschen in meiner Gasse kennen, stempeln sie mich nicht als Freak ab und meistens fahre ich, egal wohin, mit dem eigenen Auto. Öffentliche Verkehrsmittel meide ich und einkaufen gehe ich nur, wenn wenig los ist. Außerdem halte ich Abstand, so gut wie möglich, zu allen Menschen und ich desinfiziere, desinfiziere mich den lieben langen Tag. Ich bin ein Desinfektions-Junkie geworden. Wenn ich nach Hause zurückkehre, lasse ich all meine Kleidung in der „Pandemieschleuse“, erst dann betrete ich unser gemeinsames Haus.

Was mir zurzeit am meisten fehlt? Das sind meine Söhne und meine Enkelkinder, nicht nur erst zu Corona Zeiten, sondern bereits seit vielen Jahren. Wer weiß, wann wir sie dieses Jahr zu Gesicht bekommen werden? Wann wir miteinander lachen und spielen können, wann wir stundenlange Gespräche in der Küche führen werden? Zurzeit versuchen wir den Kontakt via Skype zu halten, aber gestern fielen alle Leitungen aus, der Strom war für Stunden unterbrochen. Fernsehen und Internet funktionierte nicht mehr. Wir wissen nicht, was passiert ist. Noch recherchieren wir und hoffen, dass es nur an defekten Leitungen lag. Wir wollen nicht hysterisch klingen, aber wir wollen auch nicht auf Regierungspropaganda angewiesen sein. Wir wollen ein Tor zur Außenwelt, zu unseren Söhnen und zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Österreich via ZIB. Danke, dass es euch gibt.“