Dialog statt „Wer siegt in jeder Diskussion“- Tag 365 der Corona Krise

Die schmerzhafte Stille vor einem Jahr führte fast selbstverständlich zu einem Gefühl der Gemeinschaft. Wir lauschten andächtig, zumindest innerlich bewegt den vielen kleinen Balkonkonzerten. Wir sahen den täglichen Applaus für die unzähligen „leisen“ Systemerhalter unserer Gesellschaft und erlebten hautnah das freundliche Grüßen – obwohl Unbekannt – auf der Straße.

365 Tage später sind wir ebenso selbstverständlich zur allgemeinen Routine zurückgekehrt und handeln so als ob die Pandemie die letzten zwölf Monate surreal gewesen wäre. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass nur die von der Regierung verhängte Verordnung uns an der Rückkehr zur viel gepriesenen Normalität hindert. Gegrüßt wird nur mehr selten, die viel umjubelten Systemerhalter gehören der Vergangenheit an und wurden mit traurigen Bonuszahlungen abgespeist. Selbst die vielen Balkonkonzerte können wir jetzt nur mehr digital über Streaming Plattformen genießen. Überhaupt leben immer mehr Menschen „digital“, in einer digitalen Blase, in der uns Social Media mit seinen Algorithmen täglich neue „Wahrheiten“ schenkt. Und fast täglich reiten wir viele Stunden auf dieser Volksverdummungs-Welle in der ständigen Hoffnung nur ja nicht abgeworfen zu werden. Endlich einen Like erhaschen, endlich wieder gesehen werden, endlich Gleichgesinnte finden, endlich verstanden werden…….

Wir nehmen nur mehr „wahr“ und verifizieren die vielen Falschnachrichten kaum. Unser Unterbewusstsein wird geflutet und aus der Vielfalt an „Wahrheiten“ suchen wir  uns jene Gewissheit, die in unser Leben passt. Anders ausgedrückt eine Wahrheit, die wir wollen, brauchen, die uns beruhigt und unsere Moralvorstellung oder unser Gewissen besänftigt. Was nicht in den Kram passt, wird einfach abgelehnt oder „vernichtet“. Vor ein paar Tagen wurde eine Freundin von mir überraschend angerufen und unter dem Titel „pflegende Angehörige“ wenig überraschend und unkompliziert geimpft. Wie kam es dazu? Vor einigen Wochen hatte Sie ein Gespräch mit der Hotline 1450 und in diesem Telefonat beschrieb Sie ausführlich die Betreuungssituation für Ihre kranke Mutter. Nur wenige Minuten später erfuhr Sie, dass Sie jetzt unter dem Titel „pflegende Angehörige“ registriert sei. Wo, das weiß Sie bis heute nicht, nur so viel die Hotline 1450 hatte Ihren Namen, Ihre Telefonnummer und Ihre Sozialversicherungsnummer fein säuberlich notiert. Am Tag der Impfung teilte Sie diese für Sie so erfreuliche Nachricht via Facebook. Nicht weiter ungewöhnlich, würde man jetzt wohl denken. Jedoch die Reaktion war eine andere. Kaum war Ihr Eintrag gepostet, überschlugen sich die Rückmeldungen, die unerfreulichen, anklagenden und abwertenden Nachrichten nahmen zu. Die wenigen Likes konnten sich nicht durchsetzen. Ihre Gedanken überschlugen sich und  leise gestand Sie sich ein: „So fühlt es sich also an, wenn Du Deinen eigenen persönlichen Shitstorm erlebst“. „Es tut weh, stelle Sie fest, wenn „Freunde“ Dich mit den Worten „Du nimmst alten Menschen den Impfstoff weg. Du bist eine Schlampe“ oder mit den Worten „Du betrügst das System Du Hexe““ beschreiben. Und dies war nur ein Auszug der vielen Rückmeldungen, die Sie erhielt. Zahlreiche Studien belegen heute, dass Menschen schon immer bereit waren Fakten zu verschieben, wenn eigene moralische Einstellungen oder nahestehende Personen betroffen sind. Der beste Freund kann niemals ein Vergewaltiger sein, die beste Freundin keine Betrügerin. Chefs in Unternehmen oder Politikern hingegen trauen wir fast immer Böses zu, im Gegensatz zu geliebten Menschen.

Ich bin übrigens ein Fan von Begegnungen, denn Begegnungen schaffen einen Dialog und lassen andere Meinungen zu. Im Gegensatz zu den heute so geführten Diskussionen, in denen immer einer als Sieger hervorgehen muss. Wieso tun wir uns mit dieser Diversität und der Vielfalt an Meinungen noch immer so schwer? Wieso müssen wir alles immer und überall kommentieren? Wieso schaffen digitale Medien aus einem Meinungs-Rinnsal einen reißenden Fluss? Warum verbiegen wir so oft die Tatsachen, die Fakten?

Weil unser Hirn unsere Moral und unsere Gefühlswelt stärker beeinflusst, als das Wissen. In vielen Fällen leider mehr als uns lieb ist. Daher die schlechte Nachricht: Bildung hilft nur bedingt, falls überhaupt.

Social Media schenkt uns unkompliziert das Gefühl endlich wieder mitsprechen zu können, endlich wieder vorn dabei und mittendrin zu sein. Es sind einfache Nachrichten, die uns über diese Volksverblödungs-Kanäle entgegenschwimmen und auf dessen Wellen wir tagtäglich surfen. Wir bekommen das Gefühl geschenkt unser Leben endlich wieder in die eigene Hände nehmen zu können. Schließlich brauchen wir die Politiker und Menschen nicht, die uns sagen, was wir zu tun haben. Und diesen kleinen Virus, den brauchen wir schon gar nicht, wozu auch, wenn wir ihn nicht verstehen. Und weil wir diesen kleinen, hartnäckigen Virus eben nicht verstehen und dies auch nicht zugeben wollen, flüchten wir uns in ablehnende Worte: „Die da oben haben uns betrogen“. Diese Welle der vereinfachten Kommunikation wächst mehr und mehr raus aus dem Netz, formt sich neu auf der Straße und schlägt tosend um sich. Dieser Diskussion müssen wir uns „analog“ in einer digitalen Welt lieber früher als später stellen und vielleicht kehren wir dann endlich wieder zum Dia(uo)log zurück.

Denn so wie die Wissenschaft keinen Anspruch auf Wahrheitsgehalt hat, sie sich laufend verändert, sobald sich die Daten verändern, so haben wir Menschen zwar das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemals auf eigene Fakten.