Lockdown 2.0 und das Märchen von Aschenputtel – Tag 244 der Corona Krise

Ihr erinnert euch mit Sicherheit noch an das Märchen Aschenputtel der Gebrüder Grimm und an die Stelle, wo Aschenputtel die Tauben bittet, Linsen aus der Asche zu lesen: „Ihr lieben, zahmen Täubchen, ihr Turteltäubchen, all ihr Vöglein unter dem Himmel und auf Gottes Erden, kommt und helft mir lesen, die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen.“

So oder so ähnlich könnte es sich zugetragen haben, als der Gesundheitsminister seinem Beamtenstab Ende Oktober zurief: „Ihr lieben treuen Staatsdiener, ihr großartigen Juristen, all ihr Damen und Herren kommt und helft mir mit der neuen COVID-19-Notmaßnahmenverordnung. Helft mir, bestehende Maßnahmen mit einer verschärften Ausgangsregelung und der weitgehenden Schließung von Geschäften zu ergänzen. Getreu dem Motto: „die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“.“

Tags darauf trafen sich Beamte in der Anstalt im Serverraum der Schaltzentrale. Einer der Beamten namens Wichtschas legte seine Hand auf die Schaltfläche des großen Terminals und rief: „Computer, rüttel dich und schüttel dich und wirf Gut und Schlecht über mich.“

Kurz darauf warf der Terminal einen großen Umschlag mit der bezeichnenden Aufschrift „für das tägliche Leben ….“ aus. Vorsichtig beugte sich Wichtschas über den Umschlag, hob ihn auf und deutete dem Rest der Mannschaft ihm zu folgen.

Zielstrebig eilten seine Beine zum Konferenzraum „Covid-19-Maßnahmenpaket“ und betraten auf leisen Sohlen das Innere des Raumes. War noch jemand anwesend? Er rückte sich einen Stuhl zurecht, blickte seinen Kollegen selbstbewusst in die Augen und bat sie Platz zu nehmen. Vorsichtig öffnete er den Umschlag, zog ein weißes Blatt Papier mit schwarzer Schrift heraus und begann mit ruhiger, monotoner Stimme zu lesen:

„Punkt 1) Massagestudios und „fahrende Masseure“ müssen schließen, Physiotherapeuten und Osteopathen  dürfen hingegen offen halten.“

„Aber wieso das? Das verstehe ich nicht? Wie sollen wir das den Menschen erklären?“, rief einer der Beamten. Wichtschas räusperte sich und sagte ruhig, aber bestimmt: „Der medizinische Zweck ist nicht erwiesen, ob Masseure Verspannung und Verhärtungen der Muskulatur lösen und damit die Durchblutung fördern oder zumindest die Nervenbahnen reizen, ist einfach nicht erwiesen. Kommt ins Kröpfchen.“ Damit war jede weitere Diskussion im Keim erstickt.

„Punkt 2) Selbst Reisebüros sollen offen halten.“ „Aber das ist doch noch widersprüchlicher“, wandte einer der Beamten neuerlich ein. „Reisebüros sollen offen halten, obwohl sie keine Kunden haben und Menschen seit Monaten dazu angehalten sind, keine Reisen zu buchen. Wie wollen Sie das erklären?“ Wichtschas schien nicht überrascht und antwortete unbeeindruckt: „Erstens muss ich es nicht erklären. Zweitens will unser Bundeskanzler die Wintersaison retten und kann dem Druck der Tiroler Seilschaften nicht länger standhalten. Drittens darf das millionenschwere Rettungspaket für die AUA nicht umsonst gewesen sein, denken Sie dabei an Schweden, an Holland, denken Sie groß, denken Sie im Großen und Ganzen. Und Viertens steht der Impfstoff vor der Tür, womit die Reiselust der Menschen geweckt werden muss.“ „Aber wir haben doch noch keine Kühlmöglichkeit für den neuen Impfstoff“, wandte ein weiterer Beamter vorsichtig ein. „Um die Beschaffung der – 80 Grad Celsius kalten Kühlmöglichkeit zur einwandfreien Lagerung der Ampullen wird sich Kollege „Strategie“ später kümmern“, entfuhr es Wichtschas. Um souverän fortzufahren: „Jetzt geht´s zu aller erst einmal um die Wintersaison. Getreu dem Motto: Geht´s der Wirtschaft gut, geht´s uns allen gut. Und Hauptsache die Deutschen fahren gefahrlos zu Weihnachten in Tirol Ski. Die kommen ins Töpfchen.

Punkt 3) Putzereien sollen ebenfalls offen halten.“ „Was?“, entschlüpft es einem der Beamten. „Es sollen doch nur Geschäfte des täglichen Lebens offen halten, oder habe ich da etwas falsch verstanden?“ „Ja, das ist prinzipiell richtig, aber unser Bundeskanzler will seine Hemden auch weiterhin von seiner Putzerei Hansi gewaschen, gebügelt und gestärkt bekommen. Verstehen Sie? Schließlich weiß er, wie wichtig Optik ist.“ „Aber die Geschäfte sind doch meistens sehr klein und haben kaum die Möglichkeit einer Lüftung“, wirft ein weiterer Beamter ein. „Guter Punkt, Kollege Braun. Geben Sie beim Kollegen Rot in der Wirtschaftskammer Plakate mit der Aufschrift „Wait to come in“ in Auftrag, falls gewünscht gerne auch in Deutsch. Getreu dem Motto: Geht´s dem Kanzler gut, geht´s uns allen gut. Die kommen ins Töpfchen.

Punkt 4) Waffengeschäfte müssen offen gehalten werden.“ „Jetzt überschreiten wir aber eine rote Linie“, wirft eine Beamtin sichtlich verärgert ein. „Nein, keinesfalls. Waffen fallen in die Kategorie „Notfallprodukte“ und außerdem will der Berufsstand Jäger vertreten sein. Deren Gewehre brauchen Patronen, denn im Wald da gibt´s ka Sünd´und a ka Infektion. Weidmannsheil!“ „Aber“, versucht die verärgerte Beamtin nochmals einzuwenden, „reicht es denn nicht, wenn wir ein Lieferservice anbieten? Müssen wir dafür gleich alle Waffengeschäfte offen halten?“ Bereits leicht genervt, entgegnet ihr Wichtschas: „Frau Kollegin, das sind Sicherheitsprodukte und da fallen Reparaturen an, aber davon haben Sie sichtlich keine Ahnung. Hat noch jemand etwas einzuwenden, ansonsten kommen die ganz klar ins Töpfchen.“

Da erscheint der Gesundheitsminister auf der Bildfläche und ruft in die Runde seiner Beamten: „Wie geht es Ihnen? Kommen wir weiter? Wie schaut´s beim Verhältnis von Gut und Schlecht aus? Sind wir ausgewogen und verhältnismäßig? Nein, noch immer nicht, oje.“ „Ich hätte da noch eine Idee, Herr Gesundheitsminister, und zwar zum Thema Kultur“, merkt Wichtschas ganz beiläufig an. „Ich würde sagen, wir schließen einfach die Buchhandlungen.“ „Wieso um Gottes Willen wollen Sie die Buchhandlungen schießen?“, fragt der Gesundheitsminister mehr verwundert als entsetzt. „Na wegen des Pull-Effekts. Wir dürfen keine Anreize mehr schaffen, mit fremdem Gehirn zu denken.“