Es fällt mir nicht leicht, doch so ein Jahr wie dieses, obwohl ich ja bereits einige Jahre auf diesem Planeten hause, habe ich wirklich noch nie erlebt. Ich erlebe Wellen, die einem Tsunami gleichen, nur ohne Wasser und noch immer sehe ich kein „Licht am Ende des Tunnels“ weder bei Corona mit all seinen Folgen, noch bei der Radikalisierung hoffnungsloser Jugendlicher. Ich nenne sie hoffnungslose Jugendliche, weil sie sehr oft sehr jung sind und zum größten Teil am Rande unserer Gesellschaft aufwachsen. Und obwohl ich kaum bis gar keine Berührungspunkte habe, schließlich lebe ich ja seit Jahren in der Mitte unserer Gesellschaft, frage ich mich immer öfter: „Was müssen diese Menschen erlebt haben, wie müssen sie aufgewachsen sein, wenn sie solche Anschläge verüben können? Welche Gefühle übermannen sie, treiben sie zu dieser Tat oder sind sie schlicht und einfach kalt wie ein Fisch? Was ist das all entscheidende Gefühl, das sie antreibt? Ist es das Gefühl nicht mehr Teil einer Gesellschaft zu sein, nichts erreichen zu können? Ist es das Gefühl nicht mehr verstanden zu werden, ja nicht einmal mehr gehört zu werden? Ist es das Gefühl minderwertig zu sein und nicht geliebt zu werden?
Kennen Sie das eine oder andere Gefühl? Hatten Sie Situationen, in denen Menschen Ihren Worten nicht lauschten, oder Sie mitsamt Ihren Worten ignorierten? Hatten Sie Situationen, wo Sie nicht ausreden durften, wo Menschen Ihnen keine Zeit für Erklärungen einräumten? Sie vorverurteilten, aufgrund Ihres Aussehens, Ihrer Aussprache, Ihrer Herkunft, Ihrer Ideologie? Ich gebe zu, ich hatte das eine oder andere Mal das Gefühl gegen Wände zu sprechen. Meine Argumente fanden kaum Widerhall und ich musste mir eingestehen, dass meine Insel, sprich meine Meinung mir ganz alleine gehört und in manchen Situationen auf wenig Verständnis oder Überzeugung fußte.
Aber zucken wir deswegen aus? Gehen wir deswegen auf die Straße und töten wahllos Menschen? Nein, das tun wir nicht! Aber worum geht es dann? Sind es die fehlenden Perspektiven? Ist es die fehlende Vorbildwirkung? Schließlich erleben wir tagtäglich Arschlöcher, die erfolgreich sind, mit Wörtern der Angst ihre Länder regieren, demokratische Regeln von einem Tag auf den anderen für veränderbar erklären und dabei auch noch Anhänger finden. Also entwickle ich mich zum kleinen Arschloch und staune und lerne, und wenn das irgendwann nicht mehr reichen sollte, schlage ich zu. Und dann werde ich berühmt sein, berühmt wie der alte Mafiaboss von anno dazumal, geachtet und gefürchtet, geliebt und gehasst oder berühmt wie ein großer Krieger im Kampf für ein besseres Leben oder so ähnlich?
Während diese Gedanken meinen Körper, mein Hirn durchströmten, lauschte ich gebannt den Worten des ZIB2-Moderators Armin Wolf und sah fassungslos die Bilder zum „Terroranschlag“ im Herzen Wiens. Heute ist der 2. November 2020, es ist 22:00 Uhr und wir stehen kurz vor dem zweiten Lockdown in diesem Jahr.
„Kann Fiction in Realität münden?“, war einer meiner nächsten Gedanken.
Warum ich diesem Gedanken nachhing, ist relativ einfach erklärt. Schließlich hatte ich noch vor wenigen Minuten den Thriller „Wiener Blut“ auf ZDF gesehen. Hautnah erlebte ich den Kampf einer ägyptisch-wienerischen Mutter gegen eine politische Verschwörung und für das Leben ihrer jungen Tochter, die einem Mitschüler verfallen war, dessen Nähe zu einem radikalen Verein fast tödlich für sie endete.
„Nein, Fiction kann doch nicht schon wieder Realität werden“, so oder so ähnlich murmelte ich vor mich hin. Mein Mann blickte mich fragend an und in einem Nebensatz fügte ich hinzu: „Zumindest nicht immer, denn im Gegensatz zum Polit-Thriller gibt es dieses Mal tatsächlich Opfer zu beklagen“.
Als ich die fragenden Augen meines Mannes sah, setzte ich nach: „Weißt du, ich fühle mich auf einmal so leer und unendlich machtlos und klein. Und obwohl ich hoffe, dass Freunde nicht betroffen sind, kommen bei mir Erinnerungen an 9/11 hoch. Noch heute fühle ich die Angst in mir, wenn ich daran denke, dass ich über Tage nicht wusste wie es ihm geht, ob er verletzt ist oder ob es Verletzte in seinem Umfeld gab.“
Damals, ich erinnere mich noch genau, bekam ich einen Anruf von einem Freund, der mich aufgeregt fragte: „Ist mit Sigi alles in Ordnung?“ „Natürlich, warum denn nicht?“, war meine kurze lapidare Antwort auf seine Frage. Nur wenige Minuten später stand ich bereits im Seminarraum unserer Firma, wo ich den Fernseher einschaltete und mit Entsetzen die Bilder der einstürzenden Twin Towers an mir vorüber ziehen sah. Damals war Fiction Realität geworden.
Wortlos und sehr traurig verfolgten wir für weitere zwei Stunden das Geschehen auf ORF und nahmen dankbar und erleichtert kurze Nachrichten einiger Freunde entgegen. Kurz nach Mitternacht gingen wir mit dem gegenseitigen Versprechen für Mut und gegen Hass zu Bett.
Denn wir sind der Meinung, dass wir in dieser Zeit keine Zuspitzung mit Worten, sondern Diskussionen über eine Spaltung in unserer Gesellschaft, über die Perspektivenlosigkeit junger Menschen am Rande unserer Gesellschaft brauchen und Rezepte dafür, wie wir sie wieder in die Mitte unserer Gesellschaft holen können. Wir brauchen Diskussionen, wo Argumente beim Gegenüber Fuß fassen und Worten Taten folgen. Wir brauchen Politiker, die dafür den Rahmen schaffen und Menschen am Rande der Gesellschaft Gehör und eine Zukunft schenken. Denn deren Realität ist mit Sicherheit eine andere als unsere in der Mitte der Gesellschaft.